Ein Zwischenbericht in vier Kapiteln
Wir haben diese vier Kapitel unter die Überschriften: Öffnung des Theaters, Forschung mit dem Theater, Partizipation und Selbstveränderung der Intitution gestellt, weil wir mit diesen vier Stichworten unsere bisherige Arbeit in Freiburg in einer Art Zwischenreflexion befragen und auf ihre Zukunftsfähigkeit hin überprüfen.
Vorwort
Das Stadttheater gibt es nicht. Es gibt im Moment viele verschiedene Formen, diese Einrichtung zu interpretieren und zu gestalten und wir können deshalb auch nicht repräsentativ für die Arbeit anderer Kollegen sprechen. Wir können und wollen jedoch eigene Positionen und Suchbewegungen beschreiben und damit zur Diskussion stellen. Unsere Arbeit ist in den letzten Jahren in der Kritikerumfrage der Deutschen Bühne immer wieder als „bemerkenswerteste Arbeit abseits der großen Theaterzentren“ anerkannt worden. Auf der anderen Seite haben wir gerade von Kollegen anderer Stadttheater heftige Kritik und starke Widerstände erfahren. Man hat uns „Verrat an der Kunst“, „Aufgabe des professionellen Schauspiels bzw. Abschaffung des Schauspielberufes“ und insgesamt die „Reduktion des Stadttheaters auf die Perspektive eines soziokulturellen Zentrums“ vorgeworfen. „Was wollt ihr eigentlich?“ war unlängst die etwas ratlose Frage eines Kollegen nach einer Diskussion über partizipative Theaterformen. Was also wollen wir eigentlich? Wir wollen an einem positiven Begriff von Stadttheater arbeiten, indem wir die Relevanz von Stadttheater kritisch befragen und wo nötig neu interpretieren. Wir wollen damit das Stadttheater als einen Ort für die Entwicklung zeitgenössischer Theaterkunst behaupten und weiterentwickeln.
Dabei untersuchen wir in immer neuen Ansätzen das Verhältnis von Stadt und Theater. HE(ART) OF THE CITY haben wir diese Recherchen zum Stadttheater der Zukunft genannt. Und zitieren damit eine bekannte Einstellung aus dem Film „Matrix“ , in der durch ein Spiel mit den ersten beiden Buchstaben die Begriffe HEART OF THE CITY und ART OF THE CITY ineinander übergehen. Mit dieser Kunstaktion machen wir die neuen Wechselbeziehungen von Theater und Stadt zum Thema und diskutieren die Frage, wie das Stadttheater in Zukunft dem Anspruch genügen kann, das „Herz“ einer Stadt zu sein, pulsierendes und vitalisierendes Zentrum, das den Austausch verschiedener Ströme organisiert und in immer neuen Anläufen das Alte und Neue in ein kreatives Mischungsverhältnis bringt. Wir möchten diese Arbeit im folgenden in vier Perspektiven skizzieren und dabei zugleich die Frage im Auge behalten, welche Rolle dabei für uns die Zusammenarbeit mit Künstlern und Gruppen aus der Freien Szene spielt. Für uns, als Vertreter eines Stadttheaters, ist die künstlerische Zeitgenossenschaft mit ihnen wichtig, ja lebenswichtig. Dies als Grundhaltung vorangestellt.
MACKERT
Wir kennen die Diskussion über den Wert und die Legitimation solcher Kooperationen, haben sie selbst mit Heiner Goebbels und den Giessener Kollegen in der Arbeit für das Buch HEART OF THE CITY geführt, und verfolgen gespannt die aktuellen Beiträge, zuletzt von Mieke Matzke, Florina Malzacher und Henning Fülle, die Sie alle auf der hompage des Impulsefestivals finden.
Unsere These zu diesem Thema, die im folgenden hoffentlich noch deutlicher wird : Das Stadttheater braucht eine lebendige kritische Freie Szene. Und die Freie Szene braucht ein neugieriges und offenes Stadttheater. Zur Streitfrage, ob sich die Theater nicht durch die Zusammenarbeit mit der Freien Szene deren kreative Potentiale zu Unrecht aneignet, sollte man versuchsweise immer ein kontrafaktische Gedankenspiel machen: Was wäre denn, wenn die Stadttheater sich gegenüber all diesen kreativen Impulsen komplett abschotten würden, Künstler aus der freien Szene abwehren und jede Berührung vermeiden würden? Closed shops für das noch verbleibende Bildungsbürgertum sozusagen? Das kann und will sich niemand ernsthaft vorstellen – es sei denn, man bräuchte den Popanz eines selbstgenügsamen, konservativen Stadttheaters zur Begründung der eigenen Legitimität. Das ist aber total uninteressant. Interessant fänden wir vielmehr, wenn sich beide Seiten immer wieder auf eine Zusammenarbeit einließen und sich darin gegenseitig befragen, auch in Frage stellen, und darin von einander lernen könnten. Der Fonds Doppelpass bietet uns die einmalige Chance, dies für eine gewisse Zeit in sehr unterschiedlichen Konstellationen zu tun und die daraus resultierenden Erträge wie Probleme beginnend mit dem heutigen Tag gemeinsam zu reflektieren. Wir sollten diese Chance nutzen!
Nun zu unserem Zwischenbericht über die Suche nach dem Stadttheater der Zukunft in vier Kapiteln:
MUNDEL
Kapitel 1:
ÖFFNUNG des Theaters
Dieser Begriff und die damit verbundenen Anliegen scheinen inzwischen weitgehend akzeptiert und deshalb nicht weiter erläuterungsbedürftig. Die Notwendigkeit der Öffnung des Theaters in die Stadt und der Öffnung für neue Publikumsschichten, selbst die Bedeutung der Öffnung für künstlerische Perspektiven aus anderen Ländern und anderen Kulturen wird in immer mehr Stadttheatern erkannt und versucht. Die Bundeskulturstiftung hat das mit dem Heimspiel-Fond und dem Fond Wanderlust mit angestoßen und gefördert. Es ist aber vielleicht noch einmal hilfreich daran zu erinnern, welche kritischen Implikationen hinter dem Bemühen um Öffnung der Häuser standen und weiter stehen. Denn der Begriff der Öffnung zieht die Konsequenz aus der Beobachtung, dass sich da zuvor etwas verschlossen, wenn nicht gar abgeschottet hatte. Das kann sich auf die Architekturen unserer Häuser genauso beziehen, wie auf die hoch differenzierten Codes bürgerlichen Kunsterlebens, die, wie wir inzwischen verstanden haben, für viele Menschen einen Wall aus impliziten Barrieren vor einem möglichen Theaterbesuch errichtet haben. Die schrittweise Wahrnehmung dieser Barrieren bedeutet allerdings noch lange nicht, dass wir sie damit auch schon überwunden hätten. Für die Arbeit daran war für uns in Freiburg das erste Heimspiel-Projekt, das eigene konsequente Hinausgehen aus dem Theater mit dem von raumlaborberlin entworfenen ORBIT, der entscheidende Schritt. Er nötigte uns zu einer veränderten Wahrnehmung der Stadtgesellschaft und ihrer politischen, sozialen und demografischen Realitäten.
Man muss in diesem Zusammenhang zumindest daran erinnern, dass all dies in einem Moment stattfindet, in dem viele Kommunen mit einer prekären Kassenlage bei gleichzeitig steigenden Problemlagen zu kämpfen haben. Mit einigen anderen Kollegen sind wir der Meinung, dass in diesen Zeiten die Stadttheater ihre Aufgabe nicht nur darin sehen können, sich abends ab 19 Uhr für den Repertoirebetrieb zu öffnen. Mit einem Zitat von Thomas Laue: „Stadttheater müssen Zentrum sein. Nicht nur räumlich, sondern auch im Rahmen eines Diskurses über die Stadtgesellschaft und ihre Zukunft. Sie müssen sich öffnen, aber nicht aus der defizitären Not heraus, neue Publikumsschichten für den alten Betrieb zu gewinnen, sondern aus einer Lust heraus, sich einzumischen und Verbindungen herzustellen. Zwischen verschiedenen Milieus einer Stadt, den unterschiedlichen Disziplinen von Kultur und Stadtplanung und ja, auch zwischen unterschiedlichen künstlerischen Formen. Sie können und müssen der Ort sein, an dem sich die Bewohner einer Stadt begegnen. Und zwar alle Bewohner. Als Motor für Stadtentwicklung kann ihnen so eine Rolle zukommen, deren Kraft gerade von den Kommunen als Träger der großen Häuser immer noch unterschätzt wird.“
Indem wir in Freiburg das geografische wie soziale Zentrum unserer Stadt immer wieder verlassen haben, um an peripheren Orten Kommunikation zu inszenieren, haben wir selbst begonnen, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie neu zu beschreiben. Dabei war raumlabor nicht der der einzige externe Partner. Jede einzelne Station dieser theatralen Stadterkundung wurde gemeinsam mit freien Künstlern entwickelt und gestaltet. Dadurch haben wir weitgehend die Gefahr umschifft, nur das wahrzunehmen, was wir zuvor erwartet hatten. Und wir haben bewusst vermieden, diese Stationen zu Außenspielstätten zu machen, an denen wir wie gewohnt unser Theater versenden. Indem wir stattdessen über Kunstprojekte vor Ort mit den dort lebenden Menschen gemeinsame Erfahrungen gemacht haben, wurde einmal nicht das „Senden“ und „Vermitteln“ sondern das „Empfangen“ zu einer wesentlichen Aufgabe. Auf die wir als Stadttheater-Dramaturgie sehr schlecht vorbereitet waren. Bis heute arbeiten wir an diesem schwierigen Rück-Transfer, damit die Öffnung nach Außen überhaupt zu Lernprozessen im Inneren führen kann.
Die Arbeit an der Öffnung unseres Hauses wäre nicht denkbar ohne die Außenperspektiven freier Gruppen und Künstler – und zwar nicht nur Theaterkünstler! Sie führte zugleich zu einer Auseinandersetzung mit Kunst-Formaten und Arbeits-Prozessen, die außerhalb von Stadttheater-Kontexten entwickelt und erprobt wurden. Wobei das in Freiburg vielleicht auch deshalb so gut gelingen konnte, weil eine Reihe von Mitgliedern der Theaterleitung selbst wichtige Impulse aus Giessener und Hildesheimer Kontexten mitbringen. Die Öffnung des Hauses führte also gleichzeitig zu einer Öffnung gegenüber Haltungen und Arbeitsformen der Freien Szenen. Das Stadttheater wurde so in seinen guten Momenten zu einem Labor, in dem Ästhetiken und Arbeitsweisen von freien Gruppen in der Reibung mit den Ästhetiken und Arbeitsweisen der Stadttheater überprüft werden konnten, die noch vor 10 Jahren als strikt gegensätzlich wahrgenommen wurden.
MACKERT
Kapitel 2:
FORSCHUNG mit dem Theater
Neben seinen herkömmlichen Aufgaben und Tätigkeitsfeldern ist das Stadttheater für uns zunehmend zu einem gesellschaftlichen Forschungsinstrument geworden. Wobei sich unser Forschungsbegriff von einem wissenschaftlichen schon darin unterscheidet, dass er keine systematischen, sondern immer nur punktuelle Recherchen verfolgen kann. Unsere Exkursionen und Experimente sind Lotungen in unterschiedliche Wirklichkeitsschichten, exemplarische Sondierungen an vermutete Nervpunkte des gesellschaftlichen Organismus, mit denen wir in aller Regel etwas über mögliche zukünftige Entwicklungen dieser Gesellschaft erfahren und zur Diskussion stellen wollen. Wir verfolgen in unseren Projekten einen künstlerischen Forschungsansatz, der sich gleichermaßen mit wissenschaftlichen Ansätzen, wie mit den unterschiedlichen Sichtweisen von Laien verbündet. Bzw. für den die Verbindung solcher unterschiedlichen (heteronomen) Perspektiven konstitutiv ist. In einem über 10 Monate laufenden Projekt über die Verbesserung des menschlichen Gehirns z.B. haben wir uns mit Ethikern des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Uni Freiburg, mit Neurologen und Spezialisten für Brain-Maschine-Interfaces und andere invasive Gehirntechnologien im Bereich der medizinischen Forschung, sowie mit 50 Schülern aus fünf Freiburger Schulen zusammengetan. Geleitet von freien Regisseuren und Choreografen haben die Forschungsgruppen aus Wissenschaftlern, Schülern und Dramaturgen des Theaters in monatelangen gemeinsamen Recherchen dieses Feld erforscht, haben die für unsere Zukunft wichtigen Entscheidungsfragen im Rahmen von performativen Projekten erarbeitet und an einem Kongresswochenende im Theater öffentlich zur Diskussion gestellt. In diesem wie in den beiden Folgeprojekten zur Optimierung der menschlichen Fortpflanzung und zur synthetischen Biologie konnten wir die sich abzeichnenden gravierenden Veränderungen unseres Menschenbildes mit den Mitteln der Kunst sichtbar machen und darüber in den öffentlichen Räumen des Theaters eine Debatte führen, die ansonsten weitgehend in Expertenrunden stattfindet.
Wenn das Theater einer Stadt sich als einer der zentralen Orte behaupten will, an dem die Gesellschaft sich versammelt, um über die für sie wichtigen Zukunftsfragen nachzudenken, dann muss es in der Lage sein, diese Fragen künstlerisch zu erforschen und zu bearbeiten. Wobei für uns entscheidend ist, dass diese künstlerische Forschung wiederum zusammen mit Menschen aus dieser Stadt geschieht, die ihre Erfahrungen und ihre Fragen im Prozess zur Verfügung stellen und gemeinsam mit uns etwas lernen und das Gelernte künstlerisch bearbeiten wollen. Das Theater erarbeitet gewissermaßen nur die Bedingung der Möglichkeit solcher Forschungsprozesse und stellt darin seine Ressourcen und seine spezifischen Kompetenzen zur Verfügung. Dies hat nicht nur zur Folge, dass die Forschungserträge unvorhersehbarer werden. Es führt in aller Regel auch dazu, dass die künstlerischen Ergebnisse solcher Projekte durch die geteilte Autorschaft und durch intensive Formen von Mitarbeit und Mitbestimmung aller Beteiligten multiperspektivischer, offener und insgesamt zugänglicher werden, weil sie von vorneherein in einem kommunikativen Zusammenhang mit dem Publikum entworfen werden. Man könnte zugespitzt formuliert: Wo immer das Stadttheater sich mit Laien oder Experten für unterschiedlichste Lebensbereiche zu solchen theatralen Forschungsexpeditionen verbündet, büsst es an Autorität ein und gewinnt dafür an gesellschaftlicher Erfahrung. Die dann im besten Fall wiederum der weiteren künstlerischen Arbeit zufließt. Das Theater kommt dabei gar nicht umhin, über solche Projekte das eigene Verständnis von Kunst zu befragen und neu zu definieren. Es hat so die Chance, sich einen erweiterten Kunstbegriff zu erarbeiten, der Anschluss an die Erfahrungen z.B. im Bereich der Bildenden Kunst gewinnen könnte.
Wir haben hier für die Erläuterung unserer theatralen Forschungsarbeit bewusst ein Beispiel gewählt, das sich nicht mit den Erfahrungswelten von gesellschaftlich Benachteiligten, von Minderheiten und Problemgruppen auseinandersetzt. Obwohl wir solche Projekte in großer Zahl gemacht haben und weiter machen werden. Wir möchten aber in diesem Zusammenhang den Blick weiten für einen umfassenderen Begriff von theatraler Forschung und Recherche. Er führt uns zu unserer dritten Perspektive, die sich mit Partizipation und partizipativen Theaterformen beschäftigt.
MUNDEL
Kapitel 3:
PARTIZIPATION
„Wir“ sind auf beklemmende Weise „unter uns“, konstatiert Prof. Wolfgang Engler in seinem Beitrag für unser Buch über das Stadttheater der Zukunft, und analysiert für die Gegenwart des Stadttheaters die fehlenden Kontraste und den sozialen Verlust, der dem Theater durch das Fehlen von Arbeitern, kleinen Angestellten und Arbeitslosen entsteht. Das Stadttheater, so sagt uns Engler, hat ein Repräsentationsproblem. „Denn weder im Parkett noch auf der Bühne, die doch die Welt bedeuten will, zeigt sich im Gegenwartstheater ein auch nur annähernd treuer Ausschnitt der Stadtgesellschaft“. Und damit spricht er auch das Fernbleiben von Migranten und Menschen aus nicht- europäischen Kulturen an. Diese Diagnose ist jedenfalls für ein Stadttheater hoch beunruhigend. Muss es doch an der Teilnahme und Teilhabe grundsätzlich aller Bürger einer Stadt notwendigerweise interessiert sein. Wobei ein Teil unserer veränderten Wirklichkeitswahrnehmung darin bestand, überhaupt erst einmal festzustellen, dass in deutschen Städten inzwischen ein Viertel bis die Hälfte aller Bewohner einen Migrationshintergrund hat.
Wenn man die Frage nach der Relevanz des Stadttheaters für die Zukunft der Stadtgesellschaft stellt, muss man also zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass , je nach Fokus auf die demografische oder soziale Analyse der Stadtbevölkerung, etwa ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung im wörtlichen Sinne keinen Zugang zu den Angeboten eines Stadttheaters findet. Und dabei lassen wir noch die Frage beiseite, wie sich der veränderte Medienkonsum und die Wandlungen im gesellschaftlichen Bereich der früheren Bildungsbürger auf die Arbeit der Theater auswirken. Für immer weniger Menschen besteht jedenfalls der Reiz eines Theaterbesuches noch darin, ein Leseerlebnis mit einem Theatererlebnis zu vergleichen. Aus den zutreffenden Diagnosen von Wolfgang Engler, Mark Terkessidis, Azadeh Sharifi und anderen versuchen wir für unsere Arbeit Schlüsse zu ziehen. Wir sehen klar, dass es für die Stadttheater bei diesem Thema nicht nur um die pure Einladung an alle, d.h. um eine Frage der Öffentlichkeitsarbeit gehen kann. Für uns stellt sich genau in diesem Zusammenhang die Frage nach der Partizipation, also wie man Teilhabe und Teilnahme für grundsätzlich alle ermöglichen kann. Dabei spielen für uns Partizipative Theaterprojekte eine, wenn auch eine zentrale Rolle.
Wir haben in den vergangenen Jahren gute und wichtige Erfahrungen damit gemacht, Menschen unserer Stadt aus allen möglichen Schichten und Bereichen zur Teilnahme an Theaterprojekten einzuladen. Zunächst ergab sich das konsequent aus der ORBIT- Strategie, die die Kommunikation von Menschen vor Ort inszeniert hat, und zu Theaterprojekten wie „Familientausch“ oder der „Stadtreise Haslach“ geführt hat. Es war für uns selbst erstaunlich, wie schnell bei Menschen in sogenannten „Problemvierteln“ und aus sogenannten „bildungsfernen Schichten“ über die Entdeckung der Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungswelten spielerisch zu reflektieren, aus anfänglicher zum Teil aggressiver Ablehnung große Sympathie wurde. Und wie der ORBIT von einem skeptisch beäugten Fremdkörper zu einem akzeptierten Besucher wurde, der in der Stadtöffentlichkeit mehr und mehr zur Metapher für die Öffnung des Theaters konvertierte. Parallel zu diesem Prozess haben wir den schrittweisen Umbau der Kinder- und Jugendarbeit hin zu Beteiligungsprojekten organisiert, deren Besonderheit oft in der heterogenen Zusammensetzung der Teilnehmer lag und liegt: Projekte mit krebskranken- und gesunden Jugendlichen, mit Roma- Jugendlichen und Bio-Deutschen usw… Inzwischen sind pro Spielzeit ca. vierhundert Kinder und Jugendliche in Theaterprojekte des Stadttheaters involviert. Seit wir angefangen haben, die theaterpädagogische Arbeit von ihrer fast ausschließlichen Konzentration auf Jugendliche aus Gymnasien umzustellen und darüber nachzudenken, welche Angebote wir für Kinder- und Jugendliche aus Real-, Haupt-, oder Werkrealschulen machen können, hat der Tanz als Ausdruckform ein immer größeres Gewicht bekommen. Unser gerade beginnendes Langzeitprojekt „learning by moving“ versucht, dieses Feld mit einer nachhaltigen Zukunftsperspektive zu bearbeiten. Wenn wir daneben auf die oben erwähnten Wissenschaftsprojekte, oder Mehrgenerationenprojekte wie die „Klimakonferenz“ schauen, auf die Seniorenspielgruppe, auf Kinderchor und Kinderorchester und auf zahlreiche Projekte, bei denen sich thematisch definierte Gruppen mit Schauspielern, Tänzern und Sängern mischen, dann sehen wir immer klarer, dass die Öffnung des Theaters für vielfältige Formen von Beteiligung und die Einbeziehung von Laien in unsere Arbeit, das Gesicht unseres Stadttheaters und unsere Arbeit wesentlich prägen. Hajo Kurzenberger hat das neulich als eine neue „Bürgerbewegung“ bezeichnet. Nur dass wir diese vielgestaltige Bewegung in Freiburg sehr bewusst nicht in eine Bürgerbühne auslagern, sondern den eigentlichen Wert dieser Arbeiten darin sehen, dass sie immer mehr zum integralen Bestandteil unserer Arbeit überhaupt werden. Inzwischen ist es so, dass immer mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer an partizipativen Projekten ihre Erfahrungen verstetigen wollen, dass sie die Projekte entweder in veränderter Form selbst weiterführen, oder sich in neuen engagieren wollen. Unsere Pforte ist keine Eingangsschleuse mehr, sondern eine offene Schnittstelle zur Stadt. Unsere Räume und Probebühnen sind zu den Zeiten, an denen wir nicht proben oder spielen, immer öfter von Gruppen und Menschen aus partizipativen Projekten besetzt. Und aus den Erfahrungen und Gesprächen unter allen Beteiligten entstehen neue Projekte.
Um das auch begrifflich zu verstehen und zu interpretieren, haben wir seit dieser Spielzeit begonnen, von unserem „erweiterten Ensemble“ zu sprechen. Schrittweise versuchen wir, die komplexen Zusammenhänge zwischen Beteiligung und Öffnung, zwischen Teilnahme und Teilhabe zu beschreiben. Z.B. den schwer zu fassenden, aber doch deutlich wahrnehmbaren Zusammenhang zwischen denen, die als Teilnehmer eines Projektes vielleicht zum ersten Mal das Theater betreten, und dem Publikum, das zu ihren Vorstellungen kommt. Wenn man diese Beteiligungsanstrengungen nicht auf eine Marketingstrategie zur Publikumsaquise reduziert, sondern als wechselseitige Begegnung anlegt, bei der beide Seiten ihre Erfahrungen und Kompetenzen zur Verfügung stellen, dann verändert sich die eigene Arbeit gravierend. Und zwar gleichermaßen im Hinblick auf die Themen, die Ästhetik und die Arbeitsweisen. Das hilft uns auch, die kulturelle Bildung, die in den letzten zehn Jahren so sehr ins Zentrum unserer Aufgabenbeschreibung gerückt ist, nicht länger als eine bloßen Vermittlungsauftrag misszuverstehen, sondern als einen Prozess zu gestalten, bei dem wir genau so viel zu lernen haben, wie andere. Vielleicht taucht auch deshalb der Begriff „Theaterpädagogik“ bei uns überhaupt nicht mehr auf.
Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass viele der partizipativen Projekte weder von der Dramaturgie allein erfunden wurden und werden, noch mit unseren herkömmlichen Techniken und Vorgehensweisen hätten entwickelt werden könne. Hier gab und gibt es bei uns eine große Neugier auf alles, was in Hildesheim, Giessen und anderswo entwickelt wurde und wird. Hier sind wir aus unterschiedlichen Gründen darauf angewiesen, uns mit Künstlern und Gruppen aus den freien Szenen zu verbünden, gibt es eine immer größere Durchlässigkeit für deren theaterpraktische und ästhetische Ansätze. Wir würden sogar den Gedanken zur Diskussion stellen, ob nicht gerade das Problemfeld der Partizipation und der Beteiligung am öffentlichen kulturellen Leben die Stadttheater und die Freie Szene verbinden statt trennen müsste. Um die einen vor der Selbstisolierung der Institution, die anderen vor der Selbstisolierung in nationalen und internationalen Kunst- und Festivalkontexten zu bewahren.
MACKERT
Kapitel 4:
DIE SELBSTVERÄNDERUNG DER INSTITUTION
Es gibt Kollegen in anderen Stadttheatern, die nicht verstehen, warum sich für uns aus den Erfahrungen mit Öffnung, Forschung und Partizipation notwendig die Frage nach der Selbstveränderung der Institution Stadttheater ergibt. Sie verweisen darauf, dass alle diese Bemühungen doch gerade belegen, dass das Stadttheater seine Aufgaben hervorragend erfüllt.
Unsere Perspektive ist eine andere und wir denken, dass diese Selbstveränderung für die Zukunftsfähigkeit der Stadttheater wesentlich ist. Wobei wir uns zugleich von dem immer wieder auftretenden Alarmismus distanzieren, der zuletzt auch wieder in den Hildesheimer Vorträgen auftaucht. Wir sehen nicht das drohende Ende des Stadttheaters und wir ziehen unsere Motivation zur Veränderung nicht aus Visionen vom drohenden Untergang, sondern aus der Lust, die eigene Institution als einen Ort für zeitgenössische Theaterkunst zu erhalten und für die Zukunft weiter zu entwickeln.
Und dabei stehen wir vor eine Reihe von Fragen:
Zum Beispiel der, ob die Öffnung des Stadttheaters nicht auch eine Öffnung der Ensembles wie auch der Leitung erfordert? Denn wie sonst können wir die nötigen Räume für die temporäre Verbindung mit Architekten, Filmemachern, Bildenden Künstlern und freien Kollektiven öffnen?
Wie verändert die Weiterentwicklung unserer Kunst- und Performancebegriffe die Rollenprofile der Theatermacher? Stadtrauminterventionen, Installationen, soziale Plastiken haben unsere Vorstellung von dem erweitert, was eine Vorstellung sein kann. Sie generieren neue Themen und Formate und können das Stadttheater schneller, direkter, situativer, interventionistischer – mit einem Wort politischer machen.
Was heißt das für die involvierten Autoren, deren Material sich einer kollektiven Recherche verdankt?
Was heißt das für Dramaturgen, die zu Projektleitern, Kuratoren und Koautoren werden, wenn der Ausgangspunkt ihrer Zusammenarbeit mit Regisseuren nicht mehr allein der literarische Text, sondern eine Frage, ein Thema oder eine Problemlage ist?
Was heißt das für Regisseure, die sich auf andere Probeverläufe einstellen müssen und lernen müssen, die heterogenen Teilnehmer über Arbeitsformen zu organisieren, die weniger hierarchisch und vielstimmiger sind, als in den bisherigen Stadttheaterstrukturen üblich?
Was heißt das für die Spieler, die für solche Projekte nicht einfach „besetzt“ werden können? Sie müssen sich Arbeitsformen wie Recherche, Interview und Textentwicklung vertraut machen. Sie werden zu Koautoren, die den Projektverlauf wesentlich mitbestimmen. Welche Rückwirkungen hat das es auf die anderen Probenprozesse im Stadttheater, wenn die Beteiligten an partizipativen Projekten „Theater als kollektiven künstlerischen Prozess“ erfahren? Und was schließlich heißt das für die Ausbildung an den Akademien?
Was bedeuten die beschriebenen Veränderungen auf anderen Ebenen der Institution Stadttheater, in der mehrere Hundert Menschen mit der Entstehung von Kunst und deren Vermittlung beschäftigt sind? Ein Stadtteilprojekt verläuft nicht nach den üblichen Schemata von Bauproben, technischen Einrichtungen und Endproben. Hat vielleicht auch gänzlich andere Zeitverläufe als ein Produktionszeitraum von sieben bis acht Wochen. Die Arbeiten außerhalb des Hauses stehen möglicherweise quer zur gängigen Arbeitsorganisation. Gleichzeitig besteht die Chance einer ungleich höheren Identifikation mit einem solchen Projekt, das tendenziell offener ist für Mitarbeit und Mitgestaltung. Fähigkeiten, die im üblichen Arbeitsalltag vielleicht durch die Abteilungsgrenzen unbemerkt bleiben, sind hier möglicherweise gefragt und erwünscht. Es können sich anders als sonst üblich Arbeitseinheiten bilden, die sich auf ein Projekt konzentrieren. Es entstehen Durchlässigkeiten zwischen Abteilungen, zwischen Künstlern und Technikern, zwischen internen und externen Beteiligten. Es könnte doch sein, dass uns solche Arbeitserfahrungen uns helfen, die fast schon verdrängte Frage neu zu stellen, wie deutlich mehr Mitarbeiter deutlich weniger entfremdet als bisher an der künstlerischen Arbeit unmittelbar beteiligt werden können.
Und inwieweit betrifft das Infragestellen von Grenzen und Hierarchien zu guter Letzt auch die Theaterleitungen selbst? Welche Schlüsse ziehen wir aus der Erfahrung, dass neben dem von einer künstlerischen Leitung entwickelten Spielplan auch frei kuratierte Programmbereiche wichtig werden können? Wir denken, dass sich Theaterleitungen insgesamt mit Chang-Management beschäftigen und dieses auch auf sich selbst beziehen müssen. Sonst werden sie die anderen Abteilungen nicht für verändertes Denken gewinnen. Ohne Einbeziehung externer Kompetenzen wird das schwerlich gelingen. Vor allem dann nicht, wenn der Rückfluss der Erfahrungen aus den neuen Formaten an die Grenzen der bisherigen Organisationsstrukturen stößt. Durchlässigkeiten entstehen nicht von allein, und Verflüssigungen sind nicht der Beginn, sondern das Ergebnis von Veränderungen.
Unser Vorschlag ist, das Stadttheater einmal selbst als eine soziale Plastik zu thematisieren. Wir wollen den ganzen komplizierten Organismus, mit dem wir ja nach wie vor die große Oper machen, das Abonnement bedienen, das Tanztheater behaupten, den Klassiker für die Schulen erzählen und für die Kleinsten in der Weihnachtszeit fünfzig Vorstellungen des Kinderstücks zeigen wollen, wir wollen dieses komplexe immer weiter mit und an sich arbeitende Gebilde zum Gegenstand eines Kunstprojektes machen. Zusammen mit unseren Doppelpass-Partnern Turbo Pascal, die sich selbst als Kollektiv begreifen, an dem alle Beteiligten mit allen Aspekten ihrer Arbeit gleichberechtigt befasst sind, bei denen die Entstehung von Kunst im Gegensatz zum Stadttheater nicht hierarchisch und nicht arbeitsteilig organisiert ist. Und zusammen mit Unternehmensberatern, die normalerweise Veränderungsprozesse nicht als künstlerische Prozesse begreifen. Denn für uns muss die Motivation für die anstehende Umgestaltung der Institution eine künstlerische sein, wie umgekehrt der Ertrag jeder institutionellen und strukturellen Veränderung sich an den Folgen für die künstlerische Arbeit messen lassen muss.
Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen, was dabei am Ende herauskommen wird. Wir hoffen jedoch, dass wir darüber zu einem positiven, breit mitgetragenen Begriff von Stadttheater gelangen, der die traditionellen Vorstellungen von Volkstheater neu interpetiert.
28.11.12